DFG Projekt „Poesie als ästhetische Praxis Form, Erfahrung und lebensweltlicher Bezug sprachästhetischer Artikulation in Madagaskar und Tansania“

Sowohl im madagassischen Hochland als auch an der tansanischen Swahili-Küste sind verdichtete Formen sprachlichen Ausdrucks allgegenwärtig: Bei öffentlichen Veranstaltungen begeistern Redekünstler*innen ihr Publikum, auf der Straße werden Gedichtbände verkauft, Kulturzentren veranstalten poetry-slams, in Internetforen werden Gedichte geteilt und kommentiert, und in Form von Liedtexten wird verdichtete Sprache rund um die Uhr durch zahllose Radio- und Fernsehstationen verbreitet. Dabei beschreiben die poetischen Texte nicht nur zentrale Dimensionen des alltäglichen und gesellschaftlichen Lebens; indem sie rezipiert und reflektiert werden, wirken sie selbst modellierend und gestalten Lebenswelten aktiv mit.

Ziel des beantragten Projektes ist es, die lebensweltliche Relevanz sprachästhetischer Artikulation an der tansanischen Küste und im madagassischen Hochland empirisch zu erforschen. Die Ausgangshypothese ist, dass sich die Art der poetischen Auseinandersetzung mit der Welt systematisch von expliziteren, d.h. weniger verdichteten Diskursformen unterscheidet, und dass ihre Erforschung deshalb einer eigenen, der besonderen sprachlichen Gestalt angepassten Zugangsweise bedarf. Die theoretische Kernfrage des Projekts zielt auf diesen speziellen Charakter von Dichtung als ästhetischer Ausdrucksform ab: Indem es das uneindeutige Verhältnis von Werk und Erfahrung empirisch untersucht, kann das Projekt auf innovative Weise nach Wirkung und lebensweltlicher Relevanz poetischer Sprache fragen. Damit unterscheidet es sich grundsätzlich von bisherigen Ansätzen, die beides interpretierend aus dem Werk selbst ableiten und dabei das für verdichtete Formen sprachlichen Ausdrucks so zentrale Moment der ästhetischen Erfahrung methodisch vernachlässigen.

Zu diesem Zweck untersucht das Projekt sowohl „gehobene“ als auch „populäre“ poetische Genres. Dabei stehen drei Aspekte im Zentrum, die gleichzeitig verschiedene Stadien der Forschung repräsentieren: Zuerst wird das besondere semantische Potenzial der Werke herausgearbeitet, das sich aus der genrespezifischen Verkettungen von Form und Inhalt ergibt (Aspekt 1: „Form/Gehalt“). Anschließend wird untersucht, wie die Werke in konkreten performativen Situationen ästhetisch erfahren werden (Aspekt 2: „ästhetische Erfahrung“). Und schließlich wird erarbeitet, wie und inwieweit diese Erfahrungen reflektiert und zur Auseinandersetzung mit konkreten Lebenswelten herangezogen werden (Aspekt 3: „Reflexion und Wirkung“). Indem es literaturwissenschaftliche mit ethnologischen Zugangsweisen kombiniert, die spezifische ästhetische Form ins Zentrum stellt und empirisch nach der Erfahrung poetisch vermittelter Inhalte fragt, erweitert das Projekt nicht nur die Auseinandersetzung mit poetischer Praxis in Afrika auf grundsätzliche Weise. Durch seinen besonderen methodischen Zugang kann es auch kritisch und konstruktiv zu allgemeinen Debatten über Wesen und Wirkung ästhetischer Sprache und ästhetischer Formen überhaupt beitragen.

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